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Das unselige Erbe

Die Geschichte der Psychiatrie in Palästina und Israel

Erschienen am 08.11.2012, Auflage: 1/2012
24,90 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593393612
Sprache: Deutsch
Umfang: 214 S., 6 sw Fotos
Format (T/L/B): 1.5 x 21.4 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, aufgebaut von jüdischen Einwanderern, eine eigene psychiatrische Tradition in Palästina. Deren Geschichte, die Rakefet Zalashik hier erzählt, steckt voller Paradoxien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es um die psychischen Folgen des Lebens in der Diaspora und um die Charakterisierung des "Neuen Juden". Später, in den 1930er-Jahren, brachten jüdische Psychiater aus Deutschland und Österreich - obwohl selbst Opfer der NS-Rassenideologie - den Diskurs über Eugenik und Rasse nach Palästina. Er wirkte sich aus, etwa in der Auseinandersetzung mit der "primitiven" arabischen Bevölkerung. Seit den 1940er-Jahren schließlich sahen sich die israelischen Psychiater immer öfter mit der Behandlung von Holocaust-Überlebenden konfrontiert. Wie unter einem Brennglas führt Rakefet Zalashik am Beispiel der Psychiatrie die Dilemmata der israelischen Gesellschaft vor Augen: ethnische Spannungen, das Trauma der Entwurzelung, die Integration der Holocaust-Überlebenden und das Ringen um eine jüdisch-israelische Identität.

Autorenportrait

Rakefet Zalashik ist Inaugural Mirowski Fellow für Israeli Studies an der Temple University in Philadelphia. 2009 und 2010 war sie die erste Ben-Gurion- Gastprofessorin für Israel- und Nahoststudien an der Universität und an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.

Leseprobe

Auch den belastenden Umstand, dass die erste Frau und die Kinder des Mannes der Patientin in der Schoah umgekommen waren, ordnete Finkelstein nicht dem Verlustgefühl zu, das die Schoah-Überlebende befiel: 'Als zweite Frau ihres Mannes empfand sie Minderwertigkeitsgefühle, weil sie ihrem Mann keine Kinder gebären konnte, während die erste Frau ihm zwei Kinder gebar.' Das Problem war also in Finkelsteins Augen nicht das Unvermögen, sich mit dem Verlust des Ehemannes auseinanderzusetzen, sondern die Unfruchtbarkeit von R. R. Gestützt auf die vorhandene Information kann zwar nicht behauptet werden, dass die psychische Erkrankung in diesem Falle durch die Schoah verursacht wurde, fest steht jedoch, dass die Lebensgeschichte der Patientin, ihre Vergangenheit und die traumatische Vergangenheit ihres Mannes, der seine erste Frau und seine Kinder verloren hatte, von Finkelstein bei der Analyse des Falles nicht berücksichtigt, ja eigentlich ausgeklammert wurden. Eine häufige Behauptung war, dass Schoah-Überlebende in Israel weniger an den psychischen Folgen litten als solche, die sich an anderen Orten niederließen. Gestützt auf eine Studie über Schoah-Überlebende in Frankreich, laut der 74 Prozent der Befragten an psychischen Störungen litten, und auf die bereits diskutierte Studie von Fischel Schneerson behauptete Mark Dvorjetsky: 'Tatsächlich leiden zahlreiche Schoah-Überlebende an psychischen Komplexen, etwa an einer gewissen Entfremdung vom eingesessenen Jischuw, der keine Nazigräuel erlitten hat und nichts wissen will von den Gräueln und von den Heldentaten des Untergrunds, sowie an einem Gefühl der Vereinsamung [.] verbunden mit Schuldgefühlen hinsichtlich ihrer in der Schoah umgekommenen Familien und dem nagenden Gedanken, vielleicht nicht alles getan zu haben, um sie vor dem Tod zu retten. Diese Komplexe verschwinden mit zunehmender Verwurzelung des Einwanderers im Land allmählich. Andererseits besteht das starke Verlangen, ein neues Heim aufzubauen und eine neue Familie zu gründen. [.] Besonders hervorzuheben ist die unendliche Zuneigung, die den nach dem Krieg geborenen Kindern von Schoah-Überlebenden zuteil wird. [.] Wir haben keine genauen Angaben über die Anzahl der körperlich Versehrten unter den Schoah-Überlebenden und der emotional Abgestumpften unter ihnen [.], doch wir möchten darauf hinweisen, dass sich die Schoah-Überlebenden in Israel im Unterschied zu den Deportierten in Europa durch die Synthese der Persönlichkeit und des Reintegrationsprozesses ihrer Persönlichkeit auszeichnen.' (Dvorjetsky 1955, S. 64-65) Im Gegensatz zu Schneerson, der sich auf die Immunisierungsthese stützte, führte Dvorjetsky den vermeintlich guten Zustand der Schoah-Überlebenden in Israel darauf zurück, dass Israel 'die Schoah-Überlebenden in das normale Leben reintegrierte und ihnen die Menschenrechte zurückgab: das Recht auf Wohnung, Arbeit und Gesundheit'. Dessen ungeachtet rief er dazu auf, in Israel eine Forschungsstelle für die Erforschung der Psychopathologie einzurichten und in diesem Rahmen die Psychopathologie der Schoah als eigenes Gebiet zu etablieren, denn 'nach wie vor kann jeder Arzt in Krankenhäusern oder ambulanten Kliniken die Lebensgeschichte des Patienten während des Zweiten Weltkrieges in der Krankenakte angeben [.], nach wie vor können sowohl in den Krankenhäusern als auch in den ambulanten Kliniken Statistiken über die Zahl der psychisch Kranken unter den Schoah-Überlebenden erstellt werden'. (Ebd.) In einer demografischen Studie im Jahre 1957 zweifelte Dvorjetsky aber bereits an der These, dass Schoah-Überlebende in Israel seltener an psychischen Störungen litten als anderswo, und stellte außerdem die Annahme in Frage, dass sie überhaupt seltener psychisch krank seien als andere Personengruppen: 'Gestützt auf die tägliche Beobachtung der jüdischen Schoah-Überlebenden in Israel ist festzuhalten, dass diese psychischen Störungen bei dieser Gruppe nicht besonders gehäuft auftraten oder da

Schlagzeile

Israelische Psychiatrie als Spiegel jüdischer Geschichte