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Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne

Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich

Erschienen am 08.02.2010, Auflage: 1/2010
34,95 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593391878
Sprache: Deutsch
Umfang: 378 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 21.1 x 14 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

In der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung wird national wie international das Fehlen einer Studie beklagt, die theoretische und empirische Erkenntnisse miteinander verbindet. Die theoretischen Arbeiten nutzen empirische Studien oft allenfalls selektiv zur Stützung ihrer Hypothesen. Empirische Studien wiederum verzichten meist völlig auf theoretische Erkenntnisse. Samuel Salzborn liefert nun eine empirisch grundierte Theorie über die individuellen wie kollektiven Entstehungsursachen des Antisemitismus, seine argumentativen Strukturen sowie die sozialen Kontext- und Entwicklungsbedingungen. Dazu untersucht er politikwissenschaftliche, soziologische und psychologische Arbeiten über Antisemitismus und überprüft diese anhand empirischer Analysen. Er schließt damit eine wesentliche Lücke der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung.

Autorenportrait

Samuel Salzborn ist apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen und Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus.

Leseprobe

2.3. Jean-Paul Sartre: "Portrait de l'antisémite" Das Portrait de l'antisémite, das Jean-Paul Sartre (1945) - wie auch Freud und Parsons ihre Antisemitismus-Theorien - während des Nationalsozialismus verfasst hat (vgl. Galster 2001; Grynberg 2005: 35ff.; Judaken 1997, 2006; Winock 1998), weist hinsichtlich der theoretischen Wertschätzung der symbolischen Dimension antisemitischer Ressentiments eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit zu dem Ansatz von Talcott Parsons auf. Denn wie Parsons interpretiert Sartre - obgleich aus existenzialistischem Blickwinkel selbstredend vor einem gänzlich anderen gesellschaftstheoretischen Hintergrund - "den Juden" als Symbol und versteht den Antisemitismus damit als nicht aus dem Jüdischsein oder der jüdischen Religion erklärbar, sondern aus dem Denken und Fühlen der Antisemit(inn)en, für die "der Jude" eine symbolische Funktion übernehme. Wenngleich Sartre und Parsons auch das Moment der symbolischen Repräsentation in Bezug auf den Antisemitismus als theoretischen Erklärungsansatz teilen, unterscheiden sie sich doch wesentlich in Bezug auf die Frage der perspektivischen Verortung des Symbolischen: Während Parsons die Ursachen für Antisemitismus letztlich in der Konkurrenz zwischen Juden und Nicht-Juden verortet und die Auffassung vertritt, dass vor dem Hintergrund eines realen sozialen Konflikts eine symbolische Zuschreibung gegenüber Jüdinnen und Juden erfolge, nimmt Sartre den entgegengesetzten Standpunkt ein: Er erachtet es zum Verstehen des Antisemitismus als notwendig, den Antisemiten bzw. die Antisemitin in den Blick zu nehmen, während er die jüdische Religion oder das reale Verhalten von Jüdinnen und Juden als irrelevant für die Entstehung und Artikulation von Antisemitismus ansieht - und genau deshalb aber auch die Auffassung vertritt, der Antisemitismus könne sich theoretisch ebenfalls andere gesellschaftliche Gruppen zum Objekt wählen (vgl. Bell 1997: 1ff.): "The antisemite is a person of mauvaise foi or self-deception, and the Jew is a product of the antisemite's gaze." (Judaken 1999: 47; siehe hierzu auch Kamber 1999: 252ff.) Sartres Essay, der Ende 1944 geschrieben und zunächst auf Französisch veröffentlicht wurde, beginnt mit der Feststellung, dass der Antisemit für sich das Recht einfordere, im Namen von Demokratie und Meinungsfreiheit den antijüdischen Kreuzzug zu predigen (vgl. Sartre 1945: 442). Sartre weist damit zu Beginn seines Essays auf ein Paradox hin, das für seine gesamten Überlegungen charakteristisch ist, nämlich dass der Antisemit Menschen verachtende und barbarische Rechte für sich unter dem Signet von Freiheit und Demokratie einfordere (vgl. Pelinka 1974, 1976), also dass er sich diejenigen gesellschaftlichen Strukturen zunutze mache, gegen die er opponiert und kämpft. Sartre hält in diesem Kontext ex negativo fest, wodurch der Antisemitismus nicht gekennzeichnet sei: Er sei keine Meinung, keine Erfahrung und keine historische Tatsache - womit sich Sartre in drei Richtungen von korrespondenztheoretischen Annahmen abgrenzt. Beim Antisemitismus handele es sich um keine Meinung, da er auf die Vernichtung von Menschen ziele und nicht einfach ein in den Debatten zwischen Menschen verhandelbares Gut darstelle. Überdies basiere Antisemitismus auch nicht auf Erfahrung, da antisemitische Ressentiments gänzlich unabhängig von realen Kontakten von Antisemit(inn)en mit Jüdinnen und Juden entstehen und artikuliert würden: "Loin que l'expérience engendre la notion de Juif, c'est celle-ci qui éclaire l'expér-ience au contraire; si le Juif n'existait pas, l'antisémite l'inventerait." (Sartre 1945: 446) In diesem Zusammenhang referiert Sartre auch das berühmte Beispiel, das in der Antisemitismusforschungsliteratur immer wieder zitiert wird: Er berichtet von einer jungen Frau, die unerträglichen Ärger mit sei und die den Pelz verdorben hätten, den sie ihnen anvertraut hatte. Diese Frau, so Sartre, stellte weiter fest, dass es sich bei den Kürschnern natürlich um Juden gehandelt habe. Sartres Argument, dass der Antisemitismus nicht durch eine soziale Erfahrung hervorgebracht werde, wird unter anderem anhand dieses Beispiels illustriert, da besagte Frau sich entschlossen hatte die Juden und nicht die Kürschner zu hassen - und den Grund sieht Sartre zunächst rein deskriptiv-situativ und phänomenologisch darin, dass die Frau für Antise-mitismus besonders empfänglich gewesen sei (vgl. ebd.: 445). Das dritte Negativ-Charakteristikum des Antisemitismus, eben: nicht auf historischen Tatsachen zu basieren, verlängert Sartres Theorie der soziologischen Nicht-Erfahrungssättigung von Antisemitismus um eine historische Dimension. Das heißt, dass auch nicht historische Konflikte und historische Differenzen zwischen Juden und Nicht-Juden zur Erklärung von Antisemitismus herangezogen werden können. Für den Antisemitismus seien nicht die historischen Tatsachen von Bedeutung, sondern die Vorstellung, die sich die historischen Akteure "vom Juden" gemacht haben (vgl. ebd.: 447). Es gehe um die Idee, "qu'on se fait du Juif qui semble déterminer l'histoire, non la donnée historique qui fait naître l'idée." (Ebd.) Insofern ist für Sartre der Antisemitismus auch nicht von einem äußeren Faktor (der sozialen oder historischen Erfahrung) her erklärbar, sondern lediglich durch die formulierte und phantasierte Idee vom Juden. Nicht der reale Jude, nicht das reale Verhalten von Jüdinnen und Juden, sondern "l'idée de Juif" (Ebd.: 448), die Vorstellung, die sich der Antisemit vom Juden macht, gelten als bedeutsam. Sartre begreift Antisemitismus damit in erster Linie als eine "passion" (Ebd.: 444), die selbst in ihren gemäßigten Formen eine "totalité syncrétique" (Ebd.) formiere und sich in scheinbar vernunftgeleiteten Diskursen ausdrücke, die jedoch bis hin zu körperlichen Veränderungen bei den Antisemit(inn)en führen könne. Es handle sich beim Antisemitismus um ein "engagement de l'âme" (Ebd.) und dieses Engagement entspringe nicht der Erfahrung, weder der sozialen noch der historischen. Sartre versteht den Antisemitismus insofern als Kombination aus Weltanschauung und Leidenschaft, eben als "totalité syncrétique", in deren Mittelpunkt die Idee vom Juden stehe (vgl. Martin 1998: 141ff.). Der Antisemitismus entspricht der freiwilligen Wahl der Antisemit(inn)en, sich auf diese Weise die Welt zu erklären und der Leidenschaft, den eigenen Emotionen freien Lauf lassen zu wollen: "L'antisémitisme est un choix libre et total de soi-même, une attitude globale que l'on adopte non seulement vis-à-vis des Juifs, mais vis-à-vis des hommes général, de l'histoire et de la société; c'est à la fois une passion et une conception du monde. Sans doute chez tel antisémite, certains caractères seront plus marqués que chez tel autre. Mais ils sont toujours tous présents à la fois et ils se commandent les uns les autres. C'est cette totalité syncrétique qu'il nous faut à présent tenter de décrire." (Sartre 1945: 448; Fehler i. Orig.) Bei dieser Leidenschaft, die der Antisemit gegenüber den Juden entwickle, handle es sich um Hass- bzw. Wutaffekte, die der gesellschaftlichen Realität vorausgehen und vermeintliche soziale oder historische Belege für das antisemitische Ressentiment zur Selbstlegitimation nutzen (vgl. ebd.). Das heißt, die Antisemit(inn)en machen sich auf die Suche nach realen oder fiktiven Belegen für ihre Positionen, um damit ihren Affekten in scheinbar legitimierter Form freien Lauf lassen zu können. Das Ziel ist ein Zustand heftiger Erregung, wie Sartre schreibt, wobei die Antisemit(inn)en selbst und freiwillig gewählt haben, sich in einen solchen Zustand heftiger Erregung - den der Wut und der Aggression - zu versetzen: igés de conclure que c'est l'état passionné qu'il aime." (Ebd.; Herv. i. Orig.)

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